Es gab Zeiten, als man als Koch in der Küche des Restaurants stand und großen Respekt hatte, wenn eine einzelne Person reservierte. Wenn ein Gast - ob allein oder in Gesellschaft – während des Essens noch dazu Block und Stift ausgepackte, wurde Service und Küche mulmig. Ein Tester? Das Besteck musste dann noch sorgfältiger poliert und die Tellerränder gesäubert werden. Inzwischen bin ich seit 24 Jahren MICHELIN Inspektor und weiß, dass wir damals falsch lagen. Als MICHELIN Inspektorin bzw. Inspektor geht man als normaler Gast essen und nicht zwingend allein. Seit Smartphones salonfähig sind, machen wir wie andere Gäste auch diskret Bilder von den Gerichten. Zettel und Stift wurden jedoch noch von keinem von uns je hervorgeholt. Wir haben die Komponenten und deren Zusammenspiel zuerst auf der Zunge und dann im Gedächtnis, bis sie wenig später detailgenau niedergeschrieben in unserem Archiv landen und zur jährlichen Sternekonferenz wieder hervorgeholt werden. Wir nehmen uns nicht wichtig, sind eher bescheiden und so unauffällig wie möglich, da wir einzig reflektieren, was die Küchenbrigade auf die Teller bringt. Mit großer Sorgfalt und Respekt vor den Produkten und dem Können des Teams urteilen wir und schildern unsere Erfahrungen.
Umso skurriler war mein Erlebnis vor einigen Wochen in einem Sternerestaurant mit Chefs Table, an dem an diesem Abend zwei Paare und ich saßen. Eines der Paare outete sich mit ihrem Verhalten ganz ungeniert als „journalistisch tätig“.
Kaum waren die Amuse-Bouches serviert, wurde das Smartphone gezückt – mal für ein sorgfältig komponiertes Foto, mal für ein kurzes Video, das vermutlich schnell seinen Weg in ein Reels-Format oder einen Blogbeitrag finden würde. Notizen wurden handschriftlich gemacht. Der Service wurde mit Fragen gelöchert. „Wie wurde das Fleisch gegart?“ oder „Welche Herkunft hat der Saibling?“ Die Kriterien, nach denen der Guide MICHELIN bewertet, wurden ebenso diskutiert wie das kulinarische Angebot in der Umgebung.
Ich saß dabei, beobachtete das Spektakel mit einer Mischung aus Amüsement und Neugierde. Schweigend trank ich von meinem Pinot Noir aus dem Burgund, als sich einer von beiden zu mir wandte und mich fragte: „Und Sie? Schreiben Sie auch für jemanden?“
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St. Jacques in der Handtasche
Eine Liebeserklärung ans allein essen gehen
Fischmousse zum Dessert
Illustration Image: Foodbloggerin © Andrew_Rybalko/istock