Feature 7 Minuten 02 Februar 2023

Chefkoch Sylvain Sendra erklärt die Vielfalt der japanischen Grüntees

Der 1977 in Lyon geborene Sylvain Sendra ist Küchenchef des Restaurants Fleur de Pavé im 2. Pariser Arrondissement. Sendra erhielt seinen ersten Stern, als er im Itinéraires am linken Seine-Ufer arbeitete, wo er sich mit seiner erstklassigen Bistroküche einen Namen machte. Unsere Begegnung mit einem von Japan und seinen Grüntees begeisterten Koch.

Beim Geschmack ist der Japankenner Sylvain Sendra ein Purist, wobei Geschmack für ihn stets mit Qualitätsprodukten und natürlichen Aromen verbunden ist. 2009 veröffentlichte er mit Carine Baudy im Agnès-Viénot-Verlag ein Rezept-Buch – La Cuisine au thé, in dem er unter anderem einen Lachs-Tatar mit einer Emulsion aus grünem Sencha-Ariake-Tee und konfierten Zitronen präsentiert. Der Chefkoch ist ein Anhänger des Wabi-cha, jenes bis heute in Japan praktizierten ästhetischen Konzepts, das die Bescheidenheit und Einfachheit der Teezeremonie pflegt. Das Konzept besitzt zwei Dimensionen: eine spirituelle des Empfangs und der Struktur der Teezeremonie und eine pragmatische der Abfolge und Koordination der servierten Tees.

Sylvain Sendra spricht für uns über seine ganz besondere Beziehung zu Japan, die sich im Laufe der Jahre aus seinen zahlreichen Reisen ergeben hat.

Der Küchenchef Sylvain Sendra / Florian Domergue
Der Küchenchef Sylvain Sendra / Florian Domergue

Teil 1 / Die Entdeckung Japans und seiner Grüntees

Was waren Ihre ersten Eindrücke, als Sie Japan kennenlernten?
„Japan ist ein außergewöhnliches Land: Als ich das erste Mal beruflich dort war, hatte ich mein Restaurant Itinéraires im 5. Pariser Arrondissment; ich war überwältigt. Ich fand es toll. Danach kehrte ich mindestens einmal im Jahr dorthin zurück. Japan ist vor allem ein Land des Anbaus, es wird Gemüse und Tee angebaut, aber auch der gastronomischen Kultur. Ein Land, das Frankreich sehr ähnlich und gleichzeitig sehr anders ist.

Wollten Sie besondere Elemente der japanischen Gastronomie in Ihre Küche einfließen lassen?
„Ich lasse mich von japanischen Arbeitstechniken inspirieren und arbeite mit einem japanischen Gemüsebauern zusammen – Asafumi Yamashita (mit dem Bauernhof La Ferme Yamashita in Chapet (78130) im Département Yvelines). Im Winter hat er immer eine Thermoskanne bei sich und wir trinken ab und an zusammen einen Hojicha, einen Tee, den ich wegen seiner Röstnoten den ganzen Tag über trinken kann und den ich sowohl mit süßen als auch mit salzigen Geschmacksnoten kombiniere. Über ihn beziehe ich viele japanische Gemüsesorten. Bei der Zubereitung von Fischen und beim Schneiden von Fleisch und Gemüse hat mich die japanische Küche sehr inspiriert. Auch beim Anrichten und Würzen habe ich mich von den japanischen Kochtechniken inspirieren lassen. Japanische Zutaten wie Nori-Algen und Shitake-Pilze sind in der modernen französischen Küche heute weit verbreitet...


Wie haben Sie den grünen Tee auf Ihren Reisen nach Japan kennengelernt?
Erst beim Frühstück und danach oft bei Geschäftstreffen. Bei Geschäftsterminen tranken wir Tee und nahmen an Teezeremonien teil. Bei jedem Treffen gab es einen japanischen grünen Tee, wobei jedes Mal verschiedene Sorten angeboten wurden. So lernte ich hochwertige Tees aus verschiedenen Regionen kennen, vor allem Sencha-Tees. Ich kombiniere gerne Chinakohl, Steckrüben und Misosauce mit einem japanischen Grüntee.

Die Zubereitung der Verkostung des Tages: Kukicha, Sencha, Gyokuro, Matcha-Tee aus Uji und Genmaicha / Florian Domergue
Die Zubereitung der Verkostung des Tages: Kukicha, Sencha, Gyokuro, Matcha-Tee aus Uji und Genmaicha / Florian Domergue

Welche Rituale und Regeln sind Ihnen wichtig?
„Wenn man Ihnen eine Freude machen will, bittet man Sie, an einem Chanoyu – der Teezeremonie – teilzunehmen. Mir gefällt das Erlebnis einer echten Teezeremonie, weil alles nach Ritualen und festen Regeln abläuft. Für einen Koch ist Disziplin wichtig. Wenn man Sie in die japanische Kultur einführen möchte, lädt man Sie an bestimmte Orte ein. Bei einer solchen Gelegenheit habe ich die Kaiseki-Küche kennengelernt, die aus einer Abfolge von Gerichten besteht, die etwas kürzer ausfallen kann, wenn sie vor einer besonderen Teeverkostung stattfindet.“

Welche Bedeutung hat die Art der Zubereitung beim Tee? 
Es gab eine Zeit, in der ich in meinem Restaurant viel Kaffee trank - ich trinke auch heute noch viel Kaffee -, aber zur Entspannung trinke ich japanischen grünen Tee, vor allem vor und während des Service. Eine unserer Mitarbeiterinnen hat in einer Teeschule gearbeitet und bereitet den Tee perfekt zu, da sie genau auf die Ziehzeiten achtete. Die Zubereitung ist in den Restaurants bei uns in Frankreich meistens nicht so präzise. Heute Morgen habe ich noch mit Romain, meinem Oberkellner, darüber gesprochen und ihm gesagt, dass man beim Servieren von Tee auf die Wahl des Wassers und die Aufgussmethode achten muss. Das Paradoxe ist, dass wir in Frankreich viel hochwertigen Tee konsumieren, insbesondere grüne Tees, darunter auch japanische Tees. Aber ich bin mir nicht sicher, dass wir wissen, wie man sie richtig zubereitet.“

In Begleitung des Teejournalisten Gilles Brochard probiert Sylvain Sendra japanische Grüntees und berichtet über seine Eindrücke und Empfindungen sowie wertvolle Tipps für Teeliebhaber...

Die Verkostung japanischer Grüntees durch Sylvain Sendra / Florian Domergue
Die Verkostung japanischer Grüntees durch Sylvain Sendra / Florian Domergue

Teil 2 / Die Verkostung japanischer Grüntees 

„Geschmacklich hat der Tee tatsächlich eine herrliche Vielfalt zu bieten. Seit meinen ersten Reisen nach Japan trinke ich sehr häufig grüne Tees. Meiner Meinung nach beruht der Erfolg eines guten Grüntees auf der Qualität des Tees, aber auch auf der Zubereitung. Ich genieße es, wenn mir ein Mitglied meines Teams einen guten japanischen Grüntee serviert. Ich nehme mir die Zeit, ihn vor dem Service zu trinken, um mich zu entspannen. Im Restaurant biete ich allerdings lieber sehr gute Teebeutel als lose Ware an. Wir haben japanischen Grüntee, insbesondere Sencha, weil die Gäste ihn verlangen. Es sind vor allem Kenner, die danach fragen.“

Die Bedeutung des Wassers

„Für die Zubereitung eines hochwertigen Tees ist es sehr wichtig, gutes, ph-neutrales Wasser zu verwenden. Im Restaurant nehmen wir gefiltertes Wasser, um Blei, Kalk und den oftmals leichten Chlor-Geschmack des Pariser Leitungswassers zu vermeiden.“

Während unseres Treffens bereiten wir jeden Tee mit Cristaline zu, einem natürlichen Quellwasser mit einem ph-Wert von 7,5. Kein kochendes Wasser, sondern Wasser in einem thermostatgesteuerten Wasserkocher, das die gewünschte Temperatur für jeden verkosteten Tee hat.

Auf dem Tisch stehen Kukicha, Sencha, Gyokuro, Matcha aus Uji und Genmaicha. Geduldig und konzentriert beschreibt der Koch die hervorgerufenen Genüsse und teilt Erinnerungen an Reisen nach Japan.



Kukicha

Viele hellgrüne Stängel mit Fasern, vermischt mit Sencha-Blättern (dunkleres Grün). Er besitzt eine schöne pastellgrüne Farbe und verströmt ein pflanzliches Aroma. Schöner, erfrischender Auftakt im Mund. Leichte Adstringenz. Manche mögen ihn wegen seiner Leichtigkeit. Besonders köstlich ist er, wenn durch einen perfekten Aufguss ein ausgewogenes Geschmackserlebnis erreicht wird. Dann wirken seine wohltuenden Eigenschaften besser und können sogar zu einer gewissen Gelassenheit und geschmacklichen Vollkommenheit führen.

90° heißes Wasser in einer Kyushu-Teekanne / 6–8 g / 2 Minuten ziehen lassen und in kleinen durchsichtigen Tassen oder in weißen Porzellantassen servieren. Zartgrün, Kontrast zwischen den hellen Stängeln und den dunkleren Blättern.

„Wenn ich diese Art von Tee trinke, bevorzuge ich in der Regel mehr Stoff und weniger Aufguss. Nach dem ersten Aufguss nehme ich in der Nase sofort ein Aroma von grünem Gras wahr. Dann kommt mir dieses Gefühl von Algen, das für japanische Grüntees charakteristisch ist, das wie eine zweite Note wiederkehrt. Angenehme Länge im Mund, nachdem die Tasse ausgetrunken wurde. Die leicht bittere Note ist nicht unangenehm. Beim zweiten Aufguss erscheint die Flüssigkeit etwas trüb und der Aufguss ist lebhaft und der Geschmack köstlich. Wenn ich diesen Tee trinke, verstehe ich, warum ich weniger Kaffee trinke ...“


Sencha

Der frische Sencha aus Kyoto, den wir zubereitet haben, ist ein klassischer Tee mit schönen, unregelmäßigen Blättern, feinen Nadeln mit einigen Brüchen und einer intensiv grünen Farbe. Wir entschieden uns dafür, ihn ziemlich konzentriert zuzubereiten, um alle Aromen zu genießen. Wir hätten auch einen Fukamushi-Sencha wählen können, dessen Blätter länger gedämpft wurden, was sie anfälliger beim Rollen macht und zu stärker gebrochenen Blättern führt. Davon ist man bei diesem klassischen Sencha aber nicht weit entfernt, der ebenfalls gebrochene Blätter besitzt.

70° heißes Wasser in einer kleinen japanischen Teekanne / 5 g für 20 cl / 2 Minuten ziehen lassen.

„Dieser Tee ist bemerkenswert, er duftet nach Kräutern. Man muss die Flüssigkeit in den kleinen Tassen gut verteilen, um die Aromen auszugleichen. Die letzten Tropfen sind die besten ...
Der erste Aufguss ist sehr milde. Ich mag es, wenn ein paar Blattreste in der Tasse zurückbleiben. Das ist unvermeidlich und stört mich nicht.“

In der Hand des Küchenchefs ein paar verstreute Blätter von Gyokuro Mizuumi / Florian Domergue
In der Hand des Küchenchefs ein paar verstreute Blätter von Gyokuro Mizuumi / Florian Domergue
Gyokuro

Wir haben uns für einen biologischen Mizuumi Gyokuro mit jadegrünen, schön gefärbten Blättern entschieden. Beim Anblick der glänzenden Blätter denkt man an die vielfältigen positiven Wirkungsweisen dieses Tees. Ausgesprochen blumiges Aroma.

50° heißes Wasser/ in einer Kyūsu-Teekanne ohne Deckel / 6 g / 1 Min. 30 Sek. ziehen lassen.

„Nach dem ersten Aufguss besitzt er einen sehr milden Geschmack. Er erinnert an die Geschmacksnoten von Topinambur, Artischocke und Algen. Ich bin der Meinung, dass der Gyokuro in erster Linie durch diese drei Aromen so ausgezeichnet schmeckt. Ich mag ihn noch konzentrierter. Er verströmt einen schönen Nachgeschmack und dann merkt man, dass er nicht sehr adstringierend ist. Selbst beim Abkühlen ist er angenehm. Der zweite Aufguss ist konzentrierter, da man hierfür weniger Wasser verwendet. Der Tee ist durch seine blumigen Noten besonders milde. Es ist ein herrlicher Tee mit anhaltenden Artischockenaromen und einem schönen, klaren Nachgeschmack.“

Matcha-Tee aus Uji / Florian Domergue
Matcha-Tee aus Uji / Florian Domergue
Matcha-Tee aus Uji

IIch musste Syvain Sendra unbedingt auf den Matcha-Tee ansprechen, da ich wusste, dass er eine besondere Vorliebe für die Teezeremonie Chnoyu (buchstäblich heißes Teewasser) hat, an denen er bei seinen Besuchen in Tokio oder Kyoto gerne teilnimmt. Er ist ein Anhänger des Teewegs („Chadō“) und hat die vier Prinzipien von Sen no Rikyū verinnerlicht: Harmonie - Respekt - Reinheit - Gelassenheit. Er schlug den Tee in der Schale mit einem traditionellen Bambusbesen (Chasen) auf.

70° heißes Wasser / vom Küchenchef mit einem Teebesen aufgeschlagen. Perlmuttlöffel (wie zum Verkosten von Kaviar): 2 gewölbte Löffel.

„Dieser Tee hat eine sehr leuchtende grüne Farbe. Er besitzt eine bittere Note und viel Energie, weil dieser Tee stark dynamisierend wirkt. Er ist sehr nahrhaft. Bei einem Gyokuro oder einem Hojicha denke ich sofort an seine gesundheitsfördernde Wirkung, während ich beim Matcha an ein cremiges Gefühl denke, das fast an Milch erinnert. Der Tee ist sehr bitter und schaumig. Ich finde ihn köstlich und meine, dass man diesen Tee eher isst als trinkt. Er erinnert mich an Austern, an Bitterstoffe, an das Meer und ist voller Energie.
Er ist köstlich, sehr konzentriert, sehr fruchtig und sogar ziemlich blumig. Man schmeckt Noten von Rosenblättern und sogar einen Hauch Spinat. Ein idealer Begleiter für bestimmte Desserts und insbesondere zu weißer Schokolade.“


„Ich erinnere mich, dass ich im Winter in einem Holzhaus in Kyoto, in das mich Herr Yamashita eingeladen hatte, einen außergewöhnlichen Tee getrunken habe. Die Großmutter bereitete uns den Matcha während eines Chanoyu zu. Wir tranken ihn aus zweihundert Jahre alten Teeschalen der Familie. Nachdem die Großmutter mir erzählt hatte, wie alt das Porzellan war, traute ich mich nicht mehr, es anzufassen, weil ich wirklich ungeschickt bin. Ich fand die Schale bewundernswert. Der Inhalt war genauso schön wie das Behältnis.“

Zubereitung von Matcha-Tee aus Uji / Florian Domergue
Zubereitung von Matcha-Tee aus Uji / Florian Domergue
Genmaicha

Genmai kann mit Vollkornreis übersetzt werden, aber im Allgemeinen verwenden die Japaner weißen, gerösteten oder gepufften Reis, den sie mit Blättern des Sencha- oder Bancha-Tees kombinieren. Er enthält wenig Tein und wird warm oder kalt getrunken. Sylvain Sendra zieht die warme Variante vor.

80° heißes Wasser / 3 Min. in einer japanischen Teekanne mit Deckel ziehen lassen

„Diesen Tee kann ich den ganzen Tag über trinken kann, vormittags und nachmittags. Es ist ein klassischer Tee, den ich im Sommer wie im Winter trinken kann, heiß oder kalt, sehr angenehm.
Schöner Auftakt mit seinen pflanzlichen Geschmacksnoten und Aromen von geröstetem Reis. Er passt ideal zu Fisch wie Lachs, da er oft einen deutlichen Geschmack von Lachshaut besitzt sowie von Artischocken, Topinambur und Spinat. Ich serviere ihn aber auch zu Geflügel, um mit den geschmacklichen Kontrasten zu spielen, wie mit gerösteten Mandeln.“

„Der Genuss ist sicherlichdas Wichtigste beim Trinken von Grüntee. Zusätzlich sind japanische Grüntees auch gut für die Gesundheit. Ein guter japanischer Grüntee sorgt etwas für Entgiftung, vor allem nach den Feiertagen, wenn man vielleicht etwas über die Stränge geschlagen hat. Da ich in letzter Zeit viel gereist bin, habe ich das Bedürfnis, eine Grüntee-Kur zu machen. Und zwar vorrangig mit japanischen Tees. Japan ist das Land des Grüntees ...“

Die Zubereitung des japanischen Grüntees verbindet Disziplin und Kunst miteinander, eine schöne Metapher für das, was wir vom Leben erwarten. Man kommt zur Ruhe und, befreit seine Gedanken. Wenn man Sylvain Sendras Hand beim Aufschlagen des Matcha beobachtet und ihm dabei zusieht, wie er seine Lippen an die Schale in seinen Händen ansetzt, versteht man, dass er mit Ehrfurcht und Konzentration eine gewisse Form der inneren Erfüllung erreicht, wie ein Trost, der die Lebensenergie fördert. „Nur in der Leere“, schrieb Lao Tse, „bleibt das Wesentliche“.

Wie jeder echte Liebhaber von japanischem Grüntee weiß Sylvain Sendra, dass der Genuss von Tee zwei Gefühle hervorruft: die Freude am Geschmack und die Gelassenheit des Geistes.
Man muss japanischen grünen Tee trinken - ähnlich einer Askese -, um die grundlegende Beziehung zwischen Körper und Geist zu sublimieren. Die spirituelle Dimension des Tees entsteht auf natürliche Weise, sie ist von persönlicher Essenz oder ergibt sich manchmal einfach aus dem Moment, in dem man ihn trinkt, allein oder mit jemand anderem, und löst so eine Sehnsucht nach Ruhe und Besinnung aus.



Sylvain Sendra ist der Chefkoch des Restaurants Fleur de Pavé.

Das Gespräch führte Gilles Brochard

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Illustration Image: Der Service von Gilles Brochard / Florian Domergue


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