Travel 3 Minuten 05 Mai 2022

Sextantio: Die märchenhafte Verwandlung einer Stadt zum Hotel

Santo Stefano di Sessanio wäre beinahe eine Geisterstadt geworden, stattdessen wurde sie zum Hotel. Das Sextantio bietet Zimmer in den historischen Häusern des alten italienischen Dorfes.

Im vergangenen Herbst geriet der italienische Ort Santo Stefano di Sessanio in die Schlagzeilen. Der Bürgermeister kündigte einen Plan zur Wiederbelebung der Wirtschaft an, der auch in anderen italienischen Dörfern schon umgesetzt wurde. Er bot Menschen, die bereit wären nach Santo Stefano di Sessanio zu ziehen, eine Prämie an.

Die Hintergründe dieses Angebots sind in den ländlichen Regionen Italiens alltäglich. Santo Stefano erlebte seine Blütezeit als florierendes Zentrum der Wollindustrie bereits um 1500. In den Jahrhunderten danach folgte ein Niedergang, der durch die wirtschaftlichen Veränderungen in der Nachkriegszeit beschleunigt wurde. Kleine Orte wie dieser in den südlichen Abruzzen schrumpften, die Einwohner wanderten in größere Städte oder nach Amerika aus.

In Santo Stefano war der Bevölkerungsschwund derart radikal, dass die Stadt zur Geisterstadt zu werden drohte. Dann geschah etwas Erstaunliches. Dank eines zielstrebigen Missionars wurde fast ein Viertel der Stadt in ein Hotel umgewandelt: das Sextantio.

Oben: die Rezeption des Sextantio. Unten: ein typisches Zimmer des Hotels.
Oben: die Rezeption des Sextantio. Unten: ein typisches Zimmer des Hotels.

Die 30 Zimmer des Sextantio befinden sich nicht in einem Gebäude, sondern sind über den ganzen Borgo verteilt: Die Rezeption, das Restaurant, die Zimmer und die Suiten sind in verschiedenen authentischen Dorfhäusern untergebracht. Im Italienischen ist das Konzept als albergo diffuso (das verteilte Hotel) bekannt. Trotz einiger moderner Annehmlichkeiten in einer Stadt, die sich im Laufe der Jahrhunderte kaum verändert hat – Fußbodenheizung, eine riesige eiförmige Badewanne – ist die Renovierung unauffällig und dezent. Das Hotel verspricht einen Aufenthalt in absolut authentischer Atmosphäre.

Die Zimmer sind ehemalige Wohnräume, die über Generationen hinweg bewohnt wurden. Laut Daniele Kihlgren, dem sehr engagierten Gründer des Hotels, hat sein Team alles getan, um „die historischen Spuren in den Räumlichkeiten zu bewahren.“ Mit anderen Worten, die Spuren der Menschen, die hier gelebt haben, zu bewahren. So wurden an den Wänden zahlreiche Spuren der Zeit erhalten.

Für die Inneneinrichtung haben Kihlgren und seine Partner Archivfotos durchforstet, mündliche Überlieferungen zusammengetragen und sogar einen Anthropologen zu Rate gezogen, um die Zimmer nach den historischen Vorbildern zu gestalten.

Hier haben Kihlgrens historische Rekonstruktionen einen Vorteil gegenüber ihren anerkannten Vorbildern in Rom. „Wir können nicht zum Palazzo Corsini gehen, den Kamin stehlen und ihn im Palazzo Farnese aufstellen“, erklärte Kihlgren. „Aber bei dem historischen Erbe, mit dem wir hier arbeiten, ist das in gewisser Form möglich.“

Ob Fußböden, Kamine oder Möbel, Kihlgren fand die vielen antiken Materialien des Sextantios in Kellern und auf Mülldeponien, oft in Form von Einzelteilen „als wären sie eine Art damnatio memoriae“. Mit diesen Fundstücken wurden die Zimmer des Sextantio eingerichtet. Es erwarten die Gäste Wollmatratzen auf Holzbrettern, Decken mit traditionell inspirierten Mustern sowie Seifen und Kerzen, die nach traditioneller Art hergestellt werden. Eine perfekte Kombination von Luxus und Einfachheit.

Das Wohnzimmer der Suite L’Alchimista. Im Obergeschoss befindet sich ein Zimmer mit Balkon und Aussicht über die umliegenden Berge.
Das Wohnzimmer der Suite L’Alchimista. Im Obergeschoss befindet sich ein Zimmer mit Balkon und Aussicht über die umliegenden Berge.
Die einfach ausgestatteten „klassischen“ Zimmer haben eine klosterähnliche Atmosphäre.
Die einfach ausgestatteten „klassischen“ Zimmer haben eine klosterähnliche Atmosphäre.
Eine handgewebte Wolldecke als Bettüberdecke in einem anderen „klassischen“ Zimmer – La Camera Sul Lago.
Eine handgewebte Wolldecke als Bettüberdecke in einem anderen „klassischen“ Zimmer – La Camera Sul Lago.
Im Restaurant werden traditionelle Gerichte aus lokalen Produkten serviert.
Im Restaurant werden traditionelle Gerichte aus lokalen Produkten serviert.

Kihlgren hat es zu seiner Lebensaufgabe gemacht, Städte wie Santo Stefano vor Neubauten zu bewahren und zu beweisen, dass man im Namen des Fortschritts nicht immer neu bauen muss. Die gleiche Philosophie ist ca. 500 km südlich in dem anderen Hotel des Inhabers, dem Sextantio Le Grotte della Civita in Matera, zu spüren. Der Ort ist für seine in die Hänge gehauenen Höhlenwohnungen berühmt. Dort renoviert und restauriert Kihlgren ebendiese Höhlen zu einem weiteren eindrucksvollen albergo diffuso. „Diese kleinen Dörfer sind viel stärker mit der Umwelt verbunden als große Städte“, sagte Kihlgren in einer Dokumentation über sein Lebenswerk. „Und trotz dieser Verbundenheit haben viele touristische Unternehmen die kleinen Dörfer verdorben, indem sie neue Unterkünfte erbauten, die nicht zu der alten ländlichen Atmosphäre und ihrer tief verwurzelten Identität passten.“

Eine etwas ironische Haltung, wenn man bedenkt, dass Kihlgrens Familie ihr Vermögen in der Zementindustrie gemacht hat, trotzdem ist die Argumentation des Unternehmers überzeugend. „In diesen Orten, in denen einst 3000 Menschen lebten und heute kaum noch 50 Einwohner gezählt werden, macht es keinen Sinn, neue Häuser zu bauen.“

Womit wir wieder bei dem Angebot von Stefano di Sessanio wären, neu Hinzugezogenen eine Prämie zu zahlen, um die einst blühende Stadt wiederzubeleben. Die Frist für die Einreichung der Anträge ist verstrichen, aber die Regeln waren in jedem Fall oft sehr streng. Die Personen durften höchstens 40 Jahre alt sein und mussten einen Wohnsitz in Italien haben. Und wer das Angebot zur Finanzierung eines neuen Kleinunternehmens in Anspruch nehmen wollte, hatte die Wahl zwischen folgenden Geschäftsbereichen: „Tourismus- oder Kulturführer, Tourismusinformant, Reinigungskraft, Wartungstechniker, Betreiber einer Drogerie oder... ein Geschäft mit der örtlichen Lebensmittelindustrie.“

Eine malerische Straße in Santo Stefano di Sessanio.
Eine malerische Straße in Santo Stefano di Sessanio.

Als wir Kihlgren zu dem Angebot befragten, wirkte er zurückhaltend optimistisch. „Es hängt wirklich davon ab, wie die Leute ausgewählt werden, die sich hier niederlassen“, sagte er. Eine andere Antwort hätten wir von dem Hotelier nicht erwartet, der uns erklärte, dass man „schon ein bisschen radikal sein muss“, wenn man einen Ort wie Santo Stefano di Sessanio wiederbelebt – damit der Tourismus ihn nicht „verdirbt“.

„Mir liegt das [Hotel-]Projekt mehr am Herzen als der Gedanke, dass der Ort zum Touristenziel wird“, sagte er abschließend. Man muss die Renovierungen als eine Art Bewahrung der historischen Bausubstanz sehen, nicht als einen Aufhänger, um Aufmerksamkeit zu erregen. Dennoch fügte er hinzu: „Ich denke, dass diese in der heutigen Welt einzigartige Atmosphäre für Menschen aus der ganzen Welt ein einzigartiges Erlebnis ist.“

„Oft empfinden Menschen, die von außen kommen, mehr Liebe für diese Orte als die ursprünglichen Einwohner. Das ist zwar unschön, aber sehr wahr.“

Blick auf die Festungsstadt.
Blick auf die Festungsstadt.

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