Feature 1 Minute 21 August 2023

Geständnisse des Inspektors: „Das beste Lamm der Woche!“

Die Inspektor*innen des Guide MICHELIN arbeiten im Geheimen. Anonymität liegt in ihrer DNA. In dieser Rubrik geben wir Ihnen Einblick in ihre Welt. Wir teilen die ein oder andere besondere Geschichte, die die Inspektor*innen auf der Suche nach den besten Restaurants erlebt haben.

Wir Inspektor*innen reisen das ganz Jahr über in In- und Ausland, auch auf andere Kontinente, um für Sie die besten Adressen zu finden. In dasselbe Restaurant kommen wir erst nach Jahren wieder. So wird sichergestellt, dass kein Gastronom oder Küchenchef unsere Gesichter kennt. Um anonym zu bleiben, mischen wir uns unauffällig unter Geschäftsleute, Skifahrer, Sommerurlauber und andere Genussmenschen. Wir passen uns auch dem Kleidungsstil an, damit wir – tatsächlich oft alleinreisend – so wenig wie möglich auffallen.
Während wir unsere Testessen absolvieren, kommen wir nicht selten mit den Gastgebern ins Gespräch – eben wie jeder andere Gast auch. Dabei wird es schon schwieriger, unauffällig zu bleiben, und etwas Schauspielerei ist gefragt. „Ja, meine Frau fühlt sich nicht“ oder „Ich bin im Urlaub und wollte mir etwas gönnen“ sind Sätze, die fallen. Man kann ja schlecht erzählen, dass man als Restauranttester unterwegs ist und nach dem Mittagessen noch eine dreistellige Zahl and Kilometern zum vorgegebenen Abendessen zu fahren hat.

Nun aber zu der eigentlichen Geschichte.

Ich sitze also an einem Freitag in einem neuen Restaurant. Es ist das neunte und damit das letztes Testessen dieser Woche. Eine Kollegin hat hier bereits vor einigen Wochen auf Sterneniveau gegessen. Ich bin der erste, der ihr „nachgeht“, um die Beständigkeit der Leistung auf Dauer und über die gesamte Speisekarte hinweg zu prüfen. Hier wird ohne Zweifel großartig gekocht. Alle meine Sinne sind scharf. Ich bin konzentriert auf die Geschmacksnuancen und die wirklich wunderbare Harmonie, die der Küchenchef mit seinem Team zwischen den einzelnen Komponenten herstellt. Kurz: Ich bin voll in meinem Element.

Im Hauptgang wird mir ein fantastisches Lamm serviert. Die Qualität und die Zubereitung des Fleisches sind top, wirklich exzellent. Dazu gibt es eine hervorragende Jus, La Ratte Kartoffeln und etwas Gemüse. Definitiv der beste Hauptgang diese Woche. Nachdem ich aufgegessen habe, lege ich mein Besteck auf dem Teller ab und lasse den Gang nochmal Revue passieren, träume fast ein bisschen, erfreue mich an den ausgezeichneten Produkten und dem Können der Küchencrew.

Die Chefin kommt an den Tisch und fragt nach meiner Zufriedenheit. Aus meinen Gedanken gerissen antworte ich spontan und ehrlich: „Das war das beste Lamm diese Woche!“
Ihr Gesichtsausdruck verrät ihre durchaus verständliche Verwunderung über meinen offensichtlich hohen Lamm-Konsum.

Ich habe heute tatsächlich vergessen, dass ich zwar MICHELIN Inspektor, aber auch immer ein bisschen Schauspieler bin.



Illustration Image: Plat de côte d'agneau. © Natle/iStock

Feature

Entdecken Sie weitere Stories, die Sie bestimmt gerne lesen werden