Feature 1 Minute 10 März 2023

Geständnisse des Inspektors: St. Jacques in der Handtasche

Die Inspektoren des Guide MICHELIN arbeiten im Geheimen. Anonymität liegt in ihrer DNA. In dieser Rubrik wollen wir Ihnen einen kleinen Einblick in ihre Welt geben. Wir teilen mit Ihnen die ein oder andere besondere Geschichte, die die Inspektoren auf der Suche nach den besten Restaurants erlebt haben.

Eines unserer Kriterien und Voraussetzung für die Aufnahme in die Selektion des Guide MICHELIN ist „die Frische und Qualität der Produkte“. Als würde irgendein einigermaßen anständiges Restaurant verdorbene Ware verarbeiten und servieren! Denken Sie das auch? Ist dieses Kriterium also bloß eine Floskel?
Immerhin recherchieren wir vor unseren Besuchen die Speisekarte, die Vita des Küchenchefs, lesen die Presse und aktuelle Rezensionen. Was könnte da also in Bezug auf Frische und Qualität der Ware schiefgehen? Viel. Glauben Sie mir.

“Was könnte in Bezug auf Frische und Qualität der Ware schiefgehen? Viel”

Wenn man nur ein paar Jahre als MICHELIN Inspektor gearbeitet hat, bekommt dieses Kriterium eine ganz neue Bedeutung. Denn wer zwischen sieben- und neun Mal in der Woche essen geht, dessen Gaumen wird geschult. Man nimmt feinste Nuancen, Aromen und eben auch Fehltöne wahr, wo andere noch begeistert zuschlagen. Genau diese Fähigkeit zeichnet uns aus, wird aber wenig beachtet. Wenn Sie also in eines von uns empfohlenen Restaurants gehen, entspricht die Frische und Qualität der Produkte den Maßstäben der MICHELIN Inspektoren.

Kommen wir zu der eigentlichen Geschichte. Ich hatte in einem großen luxuriösen Ferienhotel im europäischen Ausland reserviert, das viele Restaurants beherbergt. Eines der Restaurants – von uns damals schon vor einigen Jahren als nicht empfehlenswert eingestuft - hatte einen neuen Küchenchef, schrieb selbst von großen Ambitionen und wurde von der Presse und anderen Restaurantführern hochgelobt. Allez hopp! Wenn sich da etwas getan hat, darf das Restaurant bei uns nicht fehlen. Ich reservierte. Der Speisesaal war am Abend und in der Hochsaison voll belegt, das Klientel sehr international. In der Vorspeise bestellte ich Jakobsmuscheln und freute mich drauf. Der Gang wurde serviert, auf meinem Teller fanden sich sechs oder sieben Muscheln von stattlicher Größe. Leider ließ mich schon der erste Biss erschaudern. Die Konsistenz der Muschel war ohne jegliche Struktur, gelatinös, vom Geschmack möchte ich gar nicht sprechen. Die Muscheln waren nicht verdorben, sie waren von minderwertiger Qualität. Klar, ich hätte den Gang einfach zurückgehen lassen können. Warum ich das nicht getan habe? Vielleicht aus Angst, man würde mir einen anderen Gang zubereiten, dessen Grundprodukte der Qualität der St. Jacques ähneln? Ich weiß es nicht mehr genau. Mein großes Problem in genau diesem Moment: Wohin jetzt mit den Muscheln?

Da das Restaurant recht groß und sehr gut besucht war, zog ich kaum Aufmerksamkeit auf mich. Ich bugsierte also die Muscheln nach und nach in meine Serviette und hopp in meine Handtasche. Beim Händewaschen spülte ich sie in der Toilette runter, puderte mir danach die Nase und aß zwei weitere Gänge.

Das Restaurant gibt es tatsächlich heute noch. Im Guide MICHELIN finden Sie es allerdings nicht.



Illustration Image © Tingting Ji/iStock

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